Autismusspezifische Förderung und Beratung

Beispiele aus unserer Arbeit

Man sieht Jonas, Neven und Lydia (Namen geändert) nicht an, dass sie ein Handicap haben. Auch im Gespräch merkt man es zunächst nicht. Und gerade das ist das Problem: Bei den Jugendlichen wurde eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Sie haben Schwierigkeiten, Gefühlsäußerungen, Aussagen und Verhalten anderer Menschen richtig zu deuten und angemessen zu reagieren. Das irritiert ihr Umfeld.

Wie sich eine Autismus-Spektrum-Störung zeigt, ist individuell sehr verschieden. „Der frühkindliche Autismus geht in der Regel mit weiteren Behinderungen einher“, sagt Maren Woitschig, Leiterin der Offenen Hilfen bei der Lebenshilfe Nienburg. „Der Asperger-Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Auf der einen Seite stehen Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, häufig ein ausgeprägtes Interesse, beispielsweise am mathematischen Bereich mit zum Teil auch bemerkenswerten Fähigkeiten, auf der anderen Seite Defizite in der sozialen Interaktion.“

„Frühkindlicher Autismus geht in der Regel mit weiteren Behinderungen einher.“

Die Lebenshilfe Nienburg bietet autismusspezifische Förderung nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch ihren Familien, Kindergärten und Schulen an. „Wir wollen sensibilisieren. Wir haben sehr erfahrene Kolleginnen und Kollegen, um Kinder, Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen.“

„Diese Unterstützung ist wichtig“, ist Kunsttherapeutin Ulrike Reinsch überzeugt. Sie bietet bei der Lebenshilfe Nienburg Hilfe zur angemessenen Schulbildung an und begleitet Neven auch im Unterricht. Der Jugendliche besucht das Gymnasium. Ulrike Reinsch ist dabei quasi eine Art Übersetzerin zwischen dem Denken der Jugendlichen, ihrer Klassenkameraden und der Lehrer: „Asperger-Autisten verstehen keine Ironie“, nennt die Fachfrau ein Beispiel. „Sie können nicht einschätzen, wann ein Scherz angebracht ist und wann nicht. Es ist schon eine Leistung, einen Scherz überhaupt als solchen zu erkennen.“

„Wir wollen sensibilisieren. Wir haben sehr erfahrene Kolleginnen und Kollegen.”

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben in der Regel keine Freunde – das Miteinander ist einfach zu kompliziert, für beide Seiten. Die Fachleute der Lebenshilfe Nienburg kennen Fälle, in denen die Autismus-Spektrum-Störung erst spät diagnostiziert und das Kind in der Schule so extrem gemobbt wurde, dass es sich total verweigert. So ist es bei Jonas, Lydia und Neven nicht, doch ein „normales“ Sozialleben mit Gleichaltrigen haben auch sie nicht. Die drei können sich regelmäßig untereinander treffen, weil im Rahmen der Autismus-Beratung dafür ein Gruppenangebot besteht.

Gemeinsam haben die drei ein hochkomplexes Brettspiel ausgetüftelt, bei dem es um Tiere in einem Zoo, ihre artgerechte Unterbringung und passende Versorgung geht. Im Rahmen des Spiels schlüpfen die Jugendlichen in die Rollen der Tiere – das erleichtert soziale Interaktion, erklärt Ulrike Reinsch: „Den Tieren werden bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Das macht sie berechenbar. In Rollen mit klaren Eigenschaften ist die Interaktion einfacher.“

„Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung brauchen klare Regeln und Strukturen.”

Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung brauchen klare Regeln und Strukturen. Ulrike Reinsch: „Lydia geht in die 9. Klasse. Die anderen Mädchen unterhalten sich im Unterricht über Nagellack und Make-up. Das kann Lydia nicht verstehen. Man geht doch in die Schule, um zu lernen!“ Pausen mit ihrem Gerenne und Geschreie sind für junge Menschen mit Autismus eine enorme Belastung. Ähnlich sieht es mit dem Sportunterricht aus. „Inklusion in der Schule bedeutet nicht, dass jeder alles können muss, dass sich ein Defizit irgendwann auswächst“, sagt Ulrike Reinsch. „Man kann vieles trainieren, aber eine Autismus-Spektrum-Störung geht nicht irgendwann weg.“